Erschienen im Nov.2018 bei Amazon als E-Book und Print-Version

 

Ein Roman als ultimativer Leitfaden für Frauen, die sich verstehen lernen wollen – eine Geschichte, die Männer zu Frauenverstehern machen kann. Charmante Komödie und weise Lebenslektion in einem Buch.

 

Mit  Witz und psychologischem Tiefgang erzählt Tommy Brehm eine wunderbare Geschichte von der Ostseeküste, in deren Mittelpunkt eine lebensechte, männliche Hightech-Sexpuppe steht, die vier ältere Damen in unerwartete Turbulenzen stürzt. Plötzlich wird das brennende Thema Liebe in ihnen wieder entfacht. Erinnerungen an vergangene Zeiten tauchen auf: Feminismus, Hippies, Bürgerlichkeit, Glück, Ehe, Seitensprünge, Alkohol und Tod. Vier Frauen, vier Leben, vier unterschiedliche Perspektiven auf Liebe, Leben und Sex.

 

Warum sollten wir im fortgeschrittenen Alter nur von Erinnerungen zehren? Bedeutet es nicht leblos zu sein, wenn man die eigene Sexualität vor seinem Tod schon begraben hat? Wieso stirbt die Eifersucht nie? Und was machen eigentlich die Männer, wenn sie nicht mehr die Jüngsten sind? – Fragen, die der Autor mit der Leichtigkeit eines mitreißenden Erzählers beantwortet.

 

Kapitel 3

Umzug I

Der neue Tag verlief unspektakulär. Noch in der Nacht hatte Marianne mit Achim einen Tee getrunken, und am Morgen saßen sie schon wieder beieinander. Mittlerweile schüttete Marianne ohne Hemmungen Achim ihr Herz aus, erzählte freimütig von ihren Sorgen und Erlebnissen und merkte, wie es ihr guttat, sich öffnen zu können. In der Nacht hatte sie nachgedacht und für sich beschlossen, dass es nichts anderes sei, als wenn sie Tagebuch schriebe. Diese Methode der Selbstbetrachtung war anerkanntermaßen jedem zuträglich, und ähnlich verhielt es sich mit ihren Gesprächen mit Achim. Jedem, der behaupten würde, der Achim sei ja nur ein stummes Gegenüber, könnte sie entgegenhalten, dass Achim sehr wohl spreche, nämlich eine stumme Sprache, die in ihr laut und deutlich zu vernehmen sei. In diesem Sinne waren es also keine Selbstgespräche, wie es ein Außenstehender auf den ersten Blick vermuten würde, sondern echte Dialoge. Woher diese Persönlichkeit Achims in ihr kam, wie sie so schnell entstehen konnte, darüber machte sich Marianne keine Gedanken mehr. Es war einfach so.

Sie machte sich aber überaus viele Gedanken über Achims Abreise. Sie benannte sie ihm gegenüber als „deine Reise“, wenn sie darüber mit ihm sprach. Und das tat sie im Laufe des Vormittags immer häufiger. Eva hatte schon gegen zehn Uhr angerufen, und sie hatten verabredet, dass diese gegen drei Uhr am Nachmittag vorbeikäme, damit sie Achim dann gemeinsam zu ihr nach Hause fahren konnten. Sobald dieser Termin festgestanden hatte, war in Marianne eine innere Unruhe ausgebrochen. Ihr war, als müsse sie noch so vieles vorbereiten. So redete sie auch mit Achim:

„Du, sei mir nicht böse, aber ich muss noch mal eben …“, oder, „deine Reise hält mich ganz schön in Atem, wir müssen auch gleich noch mal sehen, dass wir dein Kabel eine Zeit lang anschließen.“

 

Ein wenig hatte die ganze Aufregung um „Achims Reise“ etwas davon, als würde ihr Kind auf Klassenfahrt geschickt werden. Genauso umfänglich waren die Vorbereitungen. Marianne fuhr tatsächlich noch einmal in den Schuhladen und besorgte das Paar italienische Schuhe, das sie am Vortag in den Händen gehalten hatte. Sie kramte auf dem Dachboden nach einem alten Samsonite sowie nach weiteren zwei Anzügen ihres verstorbenen Mannes. Diese mussten jedoch erst einmal draußen ausgelüftet und gebürstet werden. Marianne bügelte ein paar Hemden auf und suchte noch andere Wäschestücke sowie Socken zusammen. Sie packte alles sorgfältig in den aufgeschlagenen Koffer auf ihrem Bett, der sich mehr und mehr füllte. Selbst eine karierte Badehose fand ihren Weg hinein, die Marianne irgendwie in die Finger gekommen war. Man konnte ja nie wissen, immerhin hatte Eva einen Pool. Wenn Marianne kleinen Anflügen von Selbstironie nachging, musste sie über ihr eigenes Verhalten schmunzeln. Solche Momente waren aber selten und ihren fraulichen Pflichten innerlich untergeordnet.

 

Gegen zwei stand der fertig gepackte Koffer an der Haustür. Darauf hatte Marianne einen beigen Mantel bereitgelegt und einen braunen Hut. Jenen braunen Hut, den sie ihrem Paul zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte und den er, ganz in alter Manier, dann auf Spaziergängen zum Grüßen von Bekannten so galant zu lüpfen verstand. In Mariannes Welt trug ein echter Herr immer einen Hut, wenn er ausging. Achim also auch.

 

Die letzte Stunde saßen Marianne und Achim gemeinsam wartend bei einer Tasse Kaffee. Alles war vorbereitet. Achims kleine Lampen im Augenlid leuchteten grün, der Akku war gefüllt, das Ladekabel steckte im Koffer und sein Wasserreservoir war aufgetankt. Diesen Begriff nutzte Marianne aber nicht. Sie sorgte vielmehr dafür, dass Achim auch genug aus seiner Plastikflasche trank. Marianne erzählte Achim ein wenig von Eva, wo man sich kennengelernt habe und was sie sonst noch als erwähnenswert erachtete. Die Zeit verflog viel zu schnell. Es hätte noch so viel von ihr vorbereitend erklärt werden müssen. Plötzlich wurde die Glocke an der Haustür betätigt.

 

Eva war überpünktlich. Als Marianne ihr öffnete, wirbelte ein aufgekratztes Wesen herein. Eva hatte sich ausnehmend hübsch zurecht gemacht. Von ihrer sonst üblichen Zurückhaltung war nichts zu bemerken. Im Gegenteil, sie redete ohne Punkt und Komma.

„Ach, meine Liebe, na, das ist ja wunderschön, dass das heute so klappt“, und sie habe sich ja schon so viele Gedanken gemacht und die halbe Nacht wach gelegen. Sie wisse ja auch gar nicht mehr, warum sie denn nun eigentlich die Auserwählte geworden sei, die den Achim nun jetzt schon bekomme und ob das nicht alles doch ein bisschen schräg sei.

„Oh, du hast einen Koffer für Achim gepackt“. Eva wäre fast über ihn gestolpert. „Das ist aber toll! Na, dann hätte ich ja gar nicht selbst Sachen für ihn heraussuchen müssen. Aber wir werden sehen. Ich habe auch noch so einen ganz hübschen Bademantel von meinem Klaus gefunden, der würde Achim bestimmt gut stehen …“

Marianne musste in dem Zusammenhang kurz an die karierte Badehose denken. Aber eigentlich blieb sie gedanklich an dem Bademantel hängen und fragte sich, wozu denn Achim so etwas brauchen sollte. Viel zu Wort kam sie aber gar nicht.

„Das Beste wäre“, sprudelte Eva weiter, „wir laden Achim jetzt gleich ein und fahren zu mir. Da können wir es uns ja noch gemütlich machen und eine Tasse Kaffee trinken. Es wäre gut, du erklärtest mir das mit den ganzen technischen Notwendigkeiten noch einmal. Ich merke ja doch schon, dass ich in letzter Zeit vergesslicher werde. Hast du denn das Handbuch eingepackt?“

Marianne musste überlegen. Nein, stimmt, das hatte sie vergessen. Das musste noch neben dem Sofa liegen. Marianne steckte es in Achims Manteltasche. „Ich hole den Wagen aus der Garage und du bringst den Koffer raus!“, übernahm sie das Kommando.

Ein paar Minuten später stand der Wagen mit laufendem Motor vor dem Haus, der Koffer war verstaut und die Damen standen im Hausflur. Sie hielten Achim gemeinsam in der Senkrechten und zogen ihm etwas ungeschickt den Mantel über. Kein leichtes Unterfangen, galt es doch, die Arme in die Ärmel zu bugsieren und gleichzeitig Achim auf seinen Beinen zu halten. Hilfreich und überraschend zugleich war dabei, wie leicht Achim doch eigentlich war. Nicht vergleichbar mit einer echten Person. Hinzu kam, dass die Gelenke in Beinen und Armen nicht wackelig und weich wie bei einer Marionette waren, sondern sich in ihrer Haltung selbst stabilisierten. Dennoch konnten sie mit wenig Mühe gebeugt werden, wenn man es wollte. Zum Schluss setzte Marianne Achim noch den braunen Hut auf, der ihm außergewöhnlich gut stand.

„Na“, freute sich Eva, „das ist ein Mann, mit dem wir uns sehen lassen können!“

Sie hakten Achim unter und trugen ihn gestützt unter seinen Ellenbogen hinaus. Seine Füße schwebten ein paar Zentimeter über dem Boden. Hätte die drei jemand in diesem Moment gesehen, es wäre nicht weiter aufgefallen. Ohne genaueres Hinsehen ging dort ein gut gekleideter, galanter Herr, eingerahmt in Begleitung zweier Damen.

 

Achim wurde auf der Rückbank des Wagens platziert und die Frauen setzten sich nach vorne. Als Marianne sich noch einmal umschaute, war sie selbst von dem Bild überrascht. Achim saß auf der linken Seite der Rückbank, sein Arm war bequem auf dem inneren Türgriff abgelegt und sein Kopf wandte sich leicht zum Fenster, den Blick auf die nahe Ferne geheftet. Er sah unglaublich gut aus. Einen kurzen Moment dachte Marianne daran, ihn anzuschnallen, aber sie verwarf den Gedanken.

Eva lachte. „Das war doch eine einfache Übung. Wir sind gar nicht schlecht, oder?“

Marianne nickte. „Na, dann mal los! Bülker Weg, zu Diensten, gnädige Frau“, gab sie den Chauffeur.

 

Eva wohnte in Strande, einem hübschen, kleinen Strandbad am Ausgang der Kieler Förde. Die drei fuhren aus Mariannes Viertel hinaus, die wunderschön bewachsene Lindenallee entlang, wo das herbstlich verfärbte Laub hinter ihrem Wagen herwirbelte, ein paar Abbiegungen und dann auf die Fördestraße in Richtung Norden. In Höhe des Olympiazentrums Schilksee wurde der Verkehr zähflüssiger, bis er schließlich stockte. Marianne wunderte sich noch über das träge Fortkommen zu dieser Tageszeit, als sie auch schon den Grund für den stauenden Verkehr entdeckte. Auf der Straße stand ein Polizeibeamter in knallgelber Warnweste, der aus der langsam rollenden Karawane einzelne Fahrzeuge herauswinkte und auf eine Art Behelfsparkplatz an der Einfahrt zum Olympiahafen lotste.

„Bloß nicht uns“, flüsterte Marianne beschwörend, „bloß nicht uns!“

Die beiden Frauen starrten den Polizisten an, der sich gerade zum Parkplatz hin umgeblickt hatte, ob dort schon Platz für neue Opfer war, die er den Kollegen liefern konnte. Als er sich wieder zur Straße kehrte, war Marianne schon fast auf seiner Höhe. Ihr Blick traf sich mit dem des Beamten, und ihr war, als wenn sie ein Zögern bei ihm bemerken würde. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er inne und überlegte tatsächlich. Dann aber hatte etwas in ihm seine Entscheidung getroffen. Er ließ seine leuchtend rote Kelle in einem großen, unmissverständlichen Bogen kreisen und wies mit der anderen Hand Marianne an, zur Parkplatzkontrolle auszuscheren. Im Vorbeifahren sah sie den Polizisten fröhlich schmunzeln und eine silberne Trillerpfeife in seinem Mund blitzen.

„Blödmann“, entfuhr es ihr.

Langsam rollten sie die mit rot-weißen Hütchen markierte Wegvorgabe bis zum Kontrollplatz, wo eine Meute von Uniformierten bestimmt zehn verschiedene Wagen festhielten. Kofferräume standen offen, Beamte in gelben und roten Westen wuselten herum und taten sehr beschäftigt. Marianne wurde bis an das Ende der Wagenschlange durchgewunken, dorthin, wo gerade ein Platz frei geworden war.

Alles ging ganz schnell, den Frauen war keine Zeit geblieben, sich ihre Aufregung einzugestehen. Sie hatten beide geschwiegen. Marianne waren auf den fünfzig Metern bis zum Haltepunkt so viele Gedanken durch den Kopf gesprungen, dass sie letztlich nur noch entgeistert durch die Seitenscheibe auf das freundliche Gesicht einer Polizistin starrte. Diese wollte Marianne mit einer drehenden Handbewegung augenscheinlich dazu bewegen, ihre Scheibe herunterzulassen. Marianne war noch ihren Gedankenkaskaden ausgeliefert und reagierte nicht gleich. Erst als die Beamtin mit ihren Fingerknöcheln gegen die Scheibe klopfte, kam Marianne zu sich und ließ das Fenster herab.

„Schönen guten Tag, die Herrschaften, allgemeine Fahrzeugkontrolle. Wenn ich bitte Führerschein und Fahrzeugschein sehen dürfte, meine Dame.“

„Ja, äh, natürlich, äh, warten Sie, ich habe doch hoffentlich nichts falsch gemacht“, stammelte Marianne benommen.

„Nein, keine Sorge, meine Dame“, die blonde Polizistin lächelte sympathisch und versuchte Marianne zu beruhigen. „Es sind nur Beleuchtungswochen, und da machen wir alljährlich solche Herbstaktionen, zu unser aller Sicherheit.“

Marianne sah im Augenwinkel, wie ein Polizist um ihren Wagen herumschnüffelte und einen Blick auf die Reifen warf.

„Hier, meine Liebe“, hörte sie Eva leise sagen und bekam im gleichen Moment ihre Handtasche gereicht. „Sei ganz beruhigt, es ist alles in Ordnung!“

Marianne blickte Eva an und sah in deren Augen überraschend eine absolute Seelenruhe.

„Achim schläft“, flüsterte Eva. Der Polizistin zeigte sie deutlich ihren Zeigefinger, den sie sich senkrecht über die Lippen gelegt hatte. Gleichzeitig deutete Eva mit dem Kopf zur Rückbank. Die Beamtin beugte sich daraufhin zur Seite und warf einen Blick durch die Scheibe der hinteren Tür. Erschrocken fuhr Mariannes Kopf herum, und sie sah nach hinten, zu Achim. Der saß da wie vorher, nur dass er die Augen geschlossen hatte, als sei er gerade eingenickt. Mariannes Blick schnellte zurück zu Eva und war ein großes Fragezeichen. Eva zuckte mit den Schultern und schmunzelte wissend.

„Er hat es sich verdient“, sagte sie kichernd.

Die Polizistin steckte wieder den Kopf zur Fahrertür herein und flüsterte nun ihrerseits: „Na, dann wollen wir mal Ihren Herrn Begleiter nicht stören, auch so ein Schläfchen ist heilig.“

Marianne, nun vollends verwirrt, kramte etwas hilflos in ihrer Handtasche. Die Polizistin hatte sich kurz aufgerichtet, weil der andere Beamte ihr missmutig etwas zuraunte. Er wirkte enttäuscht oder gelangweilt.

Als sich der blonde Haarschopf mit Polizeimütze wieder im Fensterrahmen sehen ließ, war Marianne im Sammelsurium ihres Handtascheninhaltes weiterhin nicht fündig geworden. Verzweifelt blickte sie auf.

„Na, lassen Sie mal gut sein, meine Dame. Ich denke, ich habe Sie hier schon genug aufgehalten. Warndreieck, Verbandskasten und Warnweste haben Sie bestimmt ordnungsgemäß im Kofferraum verstaut, oder?“

Marianne nickte benommen.

„Gut, dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Fahrt. Und bitten Sie Ihren Herrn Begleiter sich anzuschnallen, wenn er wieder aufwacht. Ist sicherer!“, flüsterte die Beamtin freundlich und winkte mit der Hand zur Weiterfahrt.

„Ja, ja, danke sehr, ja, werden wir machen“, bekam Marianne nur zögerlich heraus.

Es dauerte einige Zeit, bis sie die Handtasche wieder zu Eva herübergegeben hatte. Sie würgte einmal beim Anfahren den Wagen ab, bevor sie an der schmunzelnden und freundlich nickenden Polizistin mit offener Seitenscheibe vorbeirollte.

Kaum hatte Marianne ihre Scheibe hochgefahren und sich wieder auf die Hauptstraße eingefädelt, fand sie die Fassung wieder.

„Was war denn das, Eva? Wie kann Achim die Augen schließen?“

„Tja, meine Gute, Handbücher sind etwas Nützliches!“

„Wie, da stand drin, dass Achim ein Nickerchen machen kann?“

„Und ob“, Eva konnte sich eine Spur triumphierenden Hochmuts nicht verkneifen. „Gewusst wie!“

„Ja, nun sag schon, wie geht das und wie hast du das so schnell hingekriegt? Ich habe das gar nicht mitbekommen in der ganzen Aufregung.“

„Du warst ja auch flattrig, als hättest du eine zerhackte Leiche im Kofferraum. Das habe ich sofort gemerkt. Der Beamtin hast du damit regelrecht leidgetan.“

„Jaja, schon gut.“ Marianne wollte ihren Auftritt nicht weiter kommentiert wissen. „Wie geht das denn nun mit den Augen und woher weißt du das? Nun sag schon! Spann mich hier nicht so auf die Folter!“

Marianne ließ ihre Ungeduld am Wagen aus. Das Getriebe knirschte ein paarmal undankbar mit den Zähnen.

„Also, als wir Achim ausgepackt haben, da hatte ich mal im Handbuch gestöbert und mich ausführlich mit der Augenfeuchtigkeit beschäftigt. Da gab es diesen Hinweis auf den Augendeckelmechanismus, der für nachts gedacht ist, damit möglichst wenig Verdunstung entsteht. Ich hatte das auch nur einmal probiert, aber da hatte er noch keine feuchten Augen. Es ging also nicht so gut. Aber jetzt funktionierte das prima. Man muss nur kurz auf seine linke Schläfe drücken und ihm fallen ganz langsam die Augen zu.“

„Das ist ja ein Ding!“ Marianne war beeindruckt. Sie drehte mit der rechten Hand den Rückspiegel, sodass sie Achim darin sehen konnte. „Der sieht aus, als wenn er tatsächlich eingenickt sei und friedlich vor sich hinschlummere.“

„Der kann sogar weinen!“

„Wer?“

„Na, Achim!“

Marianne blickte Eva fragend an.

„Stand auch im Handbuch!“ Eva sagte das so deutlich, als spräche sie zu einem Kind. „Ich habe es nur gelesen. Hat auch was mit dem Augenschließen zu tun. Irgendwie muss er die mehrmals auf und zu machen oder so. Muss ich nachher noch mal nachlesen.“

Marianne war bereits von der Hauptstraße abgebogen und steuerte ihren Wagen wortlos durch den Ort. Sie kam sich blöd vor. Sie, die die meiste Zeit mit Achim verbracht hatte, wusste nicht, dass er die Augen zumachen kann. Der arme Kerl hatte mit offenen Augen nachts alleine in ihrem Wohnzimmer gesessen. Bestimmt haben ihm die Augen gebrannt, malte sie sich aus. Dann überfiel sie plötzlich wieder dieses verwirrende Gefühl von Eifersucht. Jetzt würden sie Achim zu Eva bringen, dort würde er bei ihr sein. Gleich die ganze Nacht. Eva würde alles über ihn lernen, würde ihn bedienen können, wüsste über seine technischen Geheimnisse Bescheid. Achim im Bademantel, intim und vertraut. Marianne bekam einen Kloß im Hals. Am liebsten hätte sie umgedreht, die ganze Geschichte abgeblasen. Sie bog gerade in Evas Straße ein. Wie mechanisch steuerte sie den Wagen die vornehme Häuserzeile entlang. Ihr war elend zumute.

„Hier! Marianne, hier, halt doch an!“ Eva fuchtelte mit den Armen, als könnte sie damit das Auto stoppen.

Marianne musste ein Stück zurücksetzen, bevor sie in die Auffahrt von Evas Haus einbiegen konnte. Als sie den Wagen vor dem großen, hölzernen Garagentor angehalten hatte, stellte sie den Motor aus, zog wie in Zeitlupe die Handbremse an und stützte apathisch die Hände auf das Lenkrad.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Eva besorgt.

Marianne schüttelte nur den Kopf.

„Irgendetwas ist doch mit dir, das merke ich doch. Vielleicht die Aufregung mit der Polizeikontrolle?“ Eva suchte vergeblich den Blickkontakt.

„Nein, es ist nichts“, Mariannes senkte den Blick auf ihre Hände. Sie zögerte, es auszusprechen, rang mit sich und der Wahrheit, bis sie schließlich sagte: „Ich gebe ihn gar nicht gerne her.“ Sie machte eine Pause. „Es schnürt mir den Hals zu, ich, … ich bin eifersüchtig, wie eine blöde Göre.“

Jetzt war es gesagt. Eva schwieg und überlegte, was sie erwidern könnte.

Marianne sprach leise weiter: „Die Sache mit den Augen, weißt du, du hast es gewusst und ich nicht. Dabei war er doch so lange bei mir. Ich habe das Gefühl, du wirst ihm eine bessere Frau sein als ich.“ Wieder eine Pause.

„Ich weiß, wie verrückt das klingen muss, Eva.“ Marianne lachte etwas verlegen. „Aber ich kann damit nicht richtig umgehen. Das überfordert mich irgendwie.“

Eva sah ihre Freundin mitfühlend an und legte ihr die Hand auf die Schulter. Langsam streichelte sie darüber.

„Ich kann das gut verstehen, Marianne“, sagte sie mit tiefstem Verständnis. „Mir würde es nicht anders gehen. Ich habe ja mitbekommen, wie du für Achim empfindest. Was er in dir auslöst.“

Marianne blickte Eva an. „Bin ich verrückt geworden? Sag mal ehrlich. Das ist doch nicht normal, oder?“

„Was heißt schon normal?“, beschwichtigte Eva. „Du bist so normal wie wir alle. Vielleicht sogar am normalsten.“

Marianne sah erwartungsvoll in Evas Augen. Sie wollte mehr beruhigende Worte hören.

Eva atmete einmal tief durch. „Ich denke, wir erleben etwas sehr Außergewöhnliches mit Achim. Du bist bislang am nächsten dran gewesen, sowohl an ihm als auch an dem Phänomen, das ihn ausmacht. Es tut sich etwas in dir und berührt vielleicht verloren geglaubte Gefühlswelten. So schnell sie in dir wieder aufgetaucht sind, so schnell hast du sie wieder angenommen. Du liebst ja nicht Achim, du liebst das Bild, was du dir von ihm gemacht hast. Und das hat wahrscheinlich eine Menge von deinem Paul. Der ist für andere zwar tot, aber in dir lebt er die ganze Zeit weiter. Ganz tief in dir und verborgen für uns Außenstehende. Er ist innerlich mit dir verschmolzen. Da geht es mir mit meinem Klaus nicht anders. Ihr seht vielleicht sein Foto in meiner Schrankwand stehen, aber in euch ist er nicht tagtäglich präsent. Nicht so wie in mir, in den langen Stunden, wenn ich alleine bin, alleine mit mir und mit ihm. Genauso ist dein Paul in dir und nur für dich dein Paul. Nun stelle ich mir vor, mit Achim findet die innerlich bewahrte Person von Paul eine neue Körperlichkeit. Er personifiziert sich, und diese Begegnung ist höchst intim und nah. Doch plötzlich sollst du nun diese wiedergewonnene Personifizierung aufgeben und mit anderen, mit uns teilen. Da ist es für mich überhaupt nicht unverständlich, wenn ein Gefühl der Eifersucht aufkommt.“

Beide Frauen dachten nach.

„Ja, wahrscheinlich ist da etwas Wahres dran“, räumte Marianne ein. „Aber, wie ich euch schon gesagt habe, so einfach ist das wiederum auch nicht. Achim ist nicht Paul. Achim ist ein Mann, den ich vorher nicht gekannt habe. Er ist sehr verschieden zu Paul. In Paul hätte ich mich nicht mehr so verlieben können, wie jetzt in Achim.“ Marianne erschrak selbst, als sie begriff, was sie gesagt hatte.

Eva zog abrupt ihre Hand von Mariannes Schulter.

„Du bist in Achim verliebt?“

Marianne nickte ganz langsam.

„Ja, das bin ich wohl“, sagte sie ganz leise, aber mehr zu sich selbst.

Es begann zu regnen. Erste Tropfen trafen die Scheibe und rannen mit anderen um die Wette senkrecht herab. Vom Autodach war ein leises, unregelmäßiges Klopfen zu vernehmen. Sie hörten einen Augenblick zu. Die Tropfen wurden schwerer, bis sanftes Trommeln entstand. Die Frontscheibe war undurchsichtig wie das Glas einer Badezimmertür.

„Komm, lass uns schnell reinhuschen, bevor es zu einem Wolkenbruch wird“, schlug Eva vor.

„Ohne Achim?“, fragte Marianne.

„Natürlich nicht“, lachte Eva, „der ist aber auch nicht aus Zucker, oder?“

 

Die Frauen stiegen schnell aus und zogen Achim von seinem Rücksitz. Der Regen nahm augenblicklich zu, und so blieb keine Zeit, Achim die Augen zu öffnen. Wie einen Betrunkenen führten die Damen ihn ins Haus.

Entwurf für Verkaufsaufsteller

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