Kurze Geschichten, von manchen verpönt, von mir geliebt. Was gibt es schöneres als kurz vorm Einschlafen, eine kleine pointierte Anekdote des Lebens mit in das Reich der Träume zu nehmen? Und genauso angenehm ist es für den Verfasser, Fiktives oder Erlebtes zu garnieren und niederzuschreiben. So hat sich über das Leben einiges angesammelt. Wie sagt der Volksmund so schön: " In der Kürze liegt die Würze!"

Schlechte Laune

Manchmal wach ich auf und habe schlechte Laune. Ich weiß nicht warum. Ich merke das schon beim eintauchen in die Wirklichkeit. Rücksturz zur Erde aber wie gesagt, schlecht gelaunt. Das habe ich selten, doch es kommt vor. Ich kenne dagegen ein gutes Rezept. Auto kaufen. Das geht so:

 

Man schlendert in ein beliebiges Autohaus. Hände vergraben in den Taschen, missmutiges Äußeres, sowieso. Blank geputzte Karossen stehen herum. Ich suche mir den teuersten raus, betrachte ihn genau, eine Zeit lang, gehe dann in die Hocke und peile die Linien. Kotflügelschwung, Scheinwerferkrümmung, Heckausführung. Spätestens jetzt kreucht die Spinne aus ihrem Netz. Der Autoverkäufer, die Nr. 1 des Hauses, betritt die Bühne. Ich stelle mich vor, Handschlag und beiläufiges Lächeln. Er heißt Grüffkamp. Ich bin gespannt auf seine Taktik.

Er versucht mich zu lesen und beginnt irgendwann: „Unser bestes Pferd im Stall“. Ich nicke kurz und frage nach der Länge des Radstandes. Blöde Frage, ich weiß, aber hier zeigt sich ob der Dealer was drauf hat. Ich kenne noch blödere Fachfragen, die ich zusammenhanglos aneinanderreihe. Irgendwann gerät der Autoverkäufer ins Schleudern. Ich frage etwas einfaches: “Wo ist eigentlich der Verbandskasten?“ Ich lass mir alles zeigen. Nebenbei erzähle ich von dem Lottogewinn. Und das Autokaufen schnell gehen muss. „Reine Bauchsache, verstehen sie?“ Der Autoverkäufer stimmt mir zu und weiß nicht mehr ob er die Männer oder Frauenverkaufstaktik anwenden soll.

Ich frage, ob ich mich mal hineinsetzen darf. Er öffnet mir die Tür. Ich lasse mich in die teure Ledergarnitur rutschen, Tür zu, Fenster runter, Ellenbogen rausgehängt. Nun wende ich mich von unten Herrn Grüffkamp zu. Wie ein Plausch auf der Strasse mit dem Nachbarn. Ob er Kinder habe, wie alt er sei, wie lange er schon diesen Beruf habe und vieles mehr. Man kann einen Mensch wirklich alles fragen. Und es interessiert mich wirklich. Aber das nur nebenbei.

Sind wir dann bei intimen Details seines Lebens angekommen, frage ich unvermittelt und abrupt nach dem Preis des Wagens. Verwirrt muss der Verkäufer selbst auf das Preisschild sehen, was vor dem Wagen aufgestellt ist.

Ich sitze immer noch drin und er ist der Fußgänger. Er kehrt von seinem Ausflug zurück, beugt sich zu mir herab und sagt fast flüsternd den Preis: “fünfzigtausendhundertachtzich.“

 

Ich streichele das Lenkrad, tätschele den Schaltknüppel und schaue Herrn Grüffkamp tief in die Augen. Er ist ein guter Mann. Ich frag:“ So, und was ist der Mitnahmepreis, sozusagen auf den Tisch des Hauses?“ Er kratzt sich am Kinn, überlegt und lässt schon mal dreitausend nach. Ich sag was von Internet und Dänemark, er schiebt fünftausend als Nachlass nach. Seine Augen leuchten trotzdem.

Ich steige aus und schweige. Ein paar Schritte Abstand, wieder in die Hocke, dumme Zwischenfrage:“ Gibt’s einen sechser Fächerkrümmer auch serienmäßig?“ Natürlich nicht. Grüffkamp will eine Liste holen. Ich sag plötzlich absurde fünfunddreissigtausend. Er lacht.

 

Ich sag zu Grüffkamp, dass der Wagen sportlicher ist als er selbst. Grüffkamp ist angenagt und will zum Abschluss kommen. Er sagt zweiundvierzig. Ich frag ihn nach Kofferrauminhalt in Litern. „Hundertzwölf“, antwortet er zügig. Ich sag:“sechsunddreissig, mehr ist mir der Spaß nicht wert.“ Grüffkamp winkt ab. Zum Glück! Ich schüttele ihm die Hand und danke für das Match.

Ich verlasse den Salon und Grüffkamp schaut mir nach. Ich spüre seine Blicke im Rücken. Meine Laune ist merklich besser. Wie es ihm geht, kann ich nur vermuten. Gegenüber in der Tankstelle kaufe ich mir einen Kaffee. Einszwanzig. Alles hat seinen Preis. Bessere Laune ist kostenlos. Danke Herr Grüffkamp!


Das Schaufenster

Heute stand ich vor einem Schaufenster eines Buchladens und betrachtete das Arrangement. Halbhoch zum Laden abgrenzend, die Rückwand aus Buchenholzfunier, darüber das Drinnen, Menschen, Regale, unzählige Buchrücken, eine Frau im Rock auf einer Leiter griff ein Buch und kletterte wieder vorsichtig hinab. Sie wusste, dass der Kunde ihr dabei zusah. Diesseits der Holzwand, die Auslage mit aufgeschlagenen Bildbänden, Stapel mit Büchern, vereinzelte Bestseller mit etwas dahinter, damit sie angewinkelt mir ins Auge kippen. Alles war auf gelben Untergrund drapiert. Buntes Herbstlaub lag wie hin geweht wahllos herum. Das war bestimmt die Idee der Praktikantin, war ein Gedanke. Ich sah ein großes doppelseitiges Foto von Alaska mit makellosem blauen Himmel und darauf ein rötliches Ahornblatt. Und ein Gesicht, das da nicht hingehört. Meine Augenlinsen stellten scharf und ich erkannte das Spiegelbild eines Mannes mit Hut in der Schaufensterscheibe. Er stand seitlich hinter mir. Ich konnte ihn unbemerkt beobachten. Ich sah genau wohin er blickt und versuchte seine Mine zu lesen. Er hatte seine Hände in den Taschen eines Trenchcoat vergraben. Ich hörte, wie er plötzlich sagte: “ Verfickte heile Welt.“

 

Ich wartete, aber mehr kam nicht. Auch er sah Alaska und das Blatt und las dann die Titel der Bestseller. Mir ging sein Satz im Kopf herum und ich musste ihm ein stückweit Recht geben. Ein Schaufenster ist eine kleine Welt, abgetrennt, befriedet, wie ein Aquarium. Es soll schön anzusehen sein, verlocken und verführen. Das Laub, der Herbst, er pustet mich Heim, hinter den Ofen mit Buch. Verfickte heile Welt.

Ich drehte mich spontan um und nickte ihm zu: „ Schön gesagt!“

„ Ist doch wahr“, bestärkte er in echter Entrüstung. „ Wir wollen eingelullt werden. Nur in den Ideen von Etwas leben, die Ausschnitte wahr haben, die uns nicht ängstlich werden lassen, nicht zu groß, nicht zu schrecklich, nicht zu viel Liebe, nicht zu viel Not.“

„ Der Mensch ist noch nicht Erwachsen, wir müssen vorsichtig mit ihm sein“, sagte ich.

Einen kurzen Moment zögerte mein Gegenüber, obwohl er schon den Mund zum Sprechen wieder geöffnet hatte. Er musste sich entschlossen haben meinen Einwand zu ignorieren, denn er fuhr fort: „ Sehen sie, ein Stück Alaska, zwar groß und seitenfüllend, aber nicht zu groß, dass wir nach hinten umfallen. Oder die Buchtitel. Auf Platz eins – Liebenswut-, ein originelles Wortspiel, von irgendeinem Verlagsheini im nahenden Vollrausch auf einen Bierdeckel gekritzelt und inhaltlich der Einheitsbrei, mit dem wir gefüttert werden wollen. Liebe, Lust und gute Laune, bisschen Ver-Lustangst , bisschen Trennungsschmerz und dann Glockengetöse überm Traualtar. Das beruhigt das Gemüt. Und Peter Scholl-Latur erklärt uns das politische Weltgeschehen und wir glauben zu wissen wer wen warum erschießt oder eben auch nicht. Reicht doch, oder?“

 

Ich überlegte ob er wirklich eine Antwort erwartete. Zumindest hatte es den Anschein. Er blickte mich an und setzte seine Rede auch nicht fort. Ich sah also das Loch im Zaun und schlüpfte hindurch und fing einfach an zu erzählen:

Meine Oma Elisabeth hatte damals am 3. Weihnachtstag 1940 nur geheiratet, weil ihre Schwester krank geworden war. Eigentlich sollte die heiraten. Und damit nun die ganzen Vorbereitungen nicht umsonst waren, hatte man sie gefragt, ob sie nicht ihren damaligen Verlobten Egon, gewissermaßen vorgezogen, den Umständen geschuldet, heiraten wolle. Das ging dann auch relativ problemlos über die Bühne, zumal es auch hervorragend in den kriegsbedingten Zeitplan hineinpasste. Egon hatte nämlich seinen Marschbefehl in der Tasche. Ein paar Tage später gings an die Front für ihn. So kamen er und Elisabeth in den unverhofften Genuss einer vorgezogenen Hochzeitsnacht, die wie zu der Zeit üblich, auch noch ersten Beischlaf bedeutete.“

Mein Gegenüber hörte gespannt zu und ich las keinerlei Verwunderung über meinen geistigen Ausflug, in seinem Gesicht.

 

Also fuhr ich fort: „ Das erste Mal sollte auch das Letzte gewesen sein. Zwei Wochen später beendete ein tödlicher Kopfschuss Egons Leben und machte meine Oma Elisabeth zur jungen Witwe.“

„ Verstehe“, rief mein Gesprächspartner aus und war sichtlich begeistert von der eigenen gedanklichen Schnelligkeit,“ aber sie war schwanger!“

Richtig! Und so kam mein Vater zur Welt. Und durch ihn irgendwann ich. Und der interessante Umkehrschluss ist der, dass wenn meine Tante, die sich übrigens bis heute bester Gesundheit erfreut, damals nicht diesen hässlichen Infekt gehabt hätte, meine Oma nicht geheiratet hätte und so, ihre jetzigen Nachkommen gar nicht erst entstanden wären. Ich auch nicht!“

„ Nee, wären sie nicht“, stimmte der Mann im Trenchcoat mir zu.

 

„ Und sehen sie“, sagte ich, „ solange ich noch nicht so recht weiß, ob das nicht irgendwie gewollt war, dass meine Tante genau zu dem Zeitpunkt erkrankte, wovon ich aber zumindest Ansatzweise ausgehen muss, wenn ich mich in dieser Welt als Willkommen fühlen will, solange bin ich zufrieden mit den halben Wahrheiten, den heilen Geschichten und den hübschen Ausschnitten von der Wirklichkeit.“

 

Als hätte mein Gesagtes ein Echo in seinem Kopf erzeugt, dauerte es eine winzige Ewigkeit in der unsere Augen ineinander ruhten. Dann zog ein Lächeln in ihm auf, wie ein hereinbrechender Tag. Nun nickte er mir zu, tippte sich lässig an seine Hutkrempe und ging davon.

 

Als meine Augen wieder im blauen Himmel Alaskas eintauchten, fragte ich mich, ob es statthaft sei, Geschichten für bestimmte Momente einfach zu erfinden.

 

 


Vertreterbegegnung

Heute war ein Vertreter an meiner Haustür. Ich habe ihm einen Cappuccino gemacht und mir einen Glasreiniger vorführen lassen. Da bin ich nett. Ich war ja mal selbst als Vertreter in eigener Sache unterwegs. Ich mochte das ganz gerne und mein Geschätspartner saß lieber im Büro rum und bewachte die Mitarbeiter.

 

So musste ich einmal im Jahr, im Herbst, alle relevanten Kaufhäuser Deutschlands besuchen. Ich kaufte mir eine Monatskarte der Bahn und düste kreuz und Quer durch die Republik. Das war sehr praktisch, da die Kaufhäuser wie Karstadt, Kaufhof usw. immer in Bahnhofsnähe lagen. Zum Abend hin konnte ich mir überlegen, ob ich irgendwo bei Freunden unterkomme, ein Hotel nehmen oder eben einen Nachtzug, sodaß ich am nächsten Morgen gleich in einer anderen Stadt wieder anfangen konnte. Die Ausarbeitung solcher Besuchspläne war dann entsprechend knifflig. Abends mit München enden und morgens mit Flensburg wieder anfangen, dann sich Richtung Süden bewegen, vielleicht bis Braunschweig um dann den nächsten Tag in Aachen anzufangen. Das machen einige so und ich lernte immer mehr dieser reisenden Vögel kennen. Man traf sich abends im Bordbistro, wo ganz schön gebechert wurde. Ein paar Damen waren auch darunter.

Es war noch die Zeit der alten Wagons mit diesen altmodischen Sechserabteils. Ich legte immer Wert darauf ein Abteil für mich alleine zu haben. Der Trick war, Abteilvorhänge zuziehen. Dann konnte man wunderbar seine Ruhe haben. Einmal, auf einer Nachtfahrt von Stuttgart nach Hamburg, war der ganze Zug voll. Ein Abteil hatte geschlossene Vorhänge. Alter Trick dachte ich und ging trotzdem rein. Leise versteht sich und richtig, da lag an der Fensterseite eine Person ausgestreckt auf den Sitzen, zugedeckt mit einer flauschigen Decke. Ich setzte mich in die Ecke nahe der Tür und las. Die schlafende Person bewegte sich hin und wieder und irgendwann guckte ein nackter Damenfuß unter der Decke hervor. Ich versuchte mich auf mein Buch zu konzentrieren, aber der Fuß lockte immer wieder meinen Blick an. Er war faszinierend, wohlgeformt und schön. Ich holte mir Papier und Stift aus meinem Aktenkoffer und begann den Fuß zu zeichnen. Ich studierte jedes Detail, jede Form, jede Ader, jeden Zeh.

 

Ich saß da, versunken in die Umsetzung von Form und Schattierung aufs Papier. Ich weiß nicht wie lange schon, aber irgendwann bemerkte ich, dass mich die Besitzerin des Fußes bei meiner Arbeit betrachtete. Sie blickte mit wunderschönen Augen unter der Decke hervor, ganz aufmerksam und unerschrocken. Unsere Blicke begegneten sich und blieben aneinander haften. Keine Worte, nur ein langes, tiefes sich anschauen. Plötzlich hob sie ihre Decke an, auffordernd, unmissverständlich, nur mit der Geste "komm zu mir unter die Decke". Ich folgte dieser stummen Einladung, legte mich neben sie, wir schmiegten uns aneinander, sie deckte uns beide zu und umarmte mich bei einem langen, zarten Kuss. Es war mittlerweile dunkel geworden, die Nacht flog am Abteilfenster vorbei, die Deckenbeleuchtung war blaugrau im Nachtmodus. Der Zug rauschte über die Schienen durch die Landschaften, hin und wieder ein leichtes Ruckeln, während wir uns still mit leisem Atem liebten. Es war das normalste der Welt für uns.


So in Löffelchenstellung schliefen wir gemeinsam ein, ganz nah, ganz eng umschlungen, wie ein Paar, das schon lange vertraut und verbunden ist. In Hannover erwachte ich. Wir lagen immer noch unverändert. Sie fragte flüsternd :" Na, gut geschlafen mein Künstler?" "Ja, sehr gut, mein Fußmodel", antworte ich ihr leise ins Ohr. Auf diese Weise unterhielten wir uns weiter. Wir flüsterten. Ich erzählte von meinem Reisehintergrund und erfuhr von ihr, dass sie für eine Firma unterwegs sei, die Pedikürekoffer vertreibe. Wie passend dachte ich. Auch sie reiste so wie ich, gerne über Nacht im Zug. Wir mochten beide keine Hotelzimmer. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten.

 

In Hamburg endete der Zug. Wir ordneten unsere Kleider und als wir schließlich voreinander auf dem Bahnsteig standen, sah ich erst wirklich, wie wunderhübsch diese Frau war, mit der ich diese Nacht verbracht hatte. Ich wollte eigentlich weiter nach Kiel. Der Zug stand schon auf einem anderen Gleis bereit. Wir standen voreinander, sahen uns an und sie lächelte zauberhaft. Dann sagte sie leise:" Kommst Du mit, ich wohne hier in der Nähe?" Ich überlegte. Es war so eine typische Weiche des Lebens. Geradeaus oder abbiegen? Ich wusste es nicht. Ich sagte nichts, blickte ihr nur in die Augen. Sie griff in ihre Manteltasche und holte ein Visitenkartenetui hervor und gab mir eine Karte von sich. "Dann melde Dich, wenn Du es weißt", sagte sie schmunzelnd. Sie umarmte mich, küsste mich auf den Mund und ging. Ich blieb einfach stehen und sah ihr nach, wie sie die Treppe vom Bahnsteig erstieg. Der Mantel, die brünetten Haare, die schönen Füße in ihren glänzenden Schuhen, an der Hand der Pedikürekoffer. Sie sah sich nicht mehr um und verschwand zwischen anderen Menschen, die im Strom davonflossen. Ich stand noch eine Weile dort, irgendwie benommen mit leerem Kopf. Ihre Visitenkarte in der Hand. Erst dann sah ich drauf. Sie hieß Melanie. Ein schöner Name für eine schöne Frau.

Als ich später im Regionalzug nach Kiel saß fühlte ich mich allein. Ein seltsames Gefühl von Verlassenheit machte sich in mir breit. Ich spürte jetzt eine Getrenntheit, eine Unvollkommenheit, ein Bedürfnis nach Nähe. In meinem Aktenkoffer hatte ich noch ein kleines Fläschchen Magenbitter. Ich trank ihn aus und öffnete das Abteilfenster. Der Fahrtwind blähte sofort die Vorhänge und kühlte mein Gesicht. Ich warf das kleine Fläschchen hinaus. Es war im gleichen Moment verschwunden. Ich griff in die Tasche und holte die Visitenkarte hervor. Mit Daumen und Zeigefinger hielt ich sie aus dem Fenster. Sie flatterte und zitterte im heftigen Luftstrom. Ich las noch einmal ihren Namen, Melanie...dann ließ ich los.


Ich habe sie nie wieder gesehen.